Zeitgeschichte regional | 07. Jg., 2003, Heft 2

6,00 

Beschreibung

Zu den kritischen Einwänden, die Hans-Ulrich Wehler an dem großartigen Projekt seiner „deutschen Gesellschaftsgeschichte“ im Vorwort zum gerade erschienenen vierten Band akzeptiert hat, gehört der: daß neben den von ihm angenommenen vier Gesellschaftsfundamenten „Demographie, Ökonomie, Kultur und Politik“ als fünftes eigentlich „das Recht“ betrachtet werden müßte. Und in der Tat: Wenn wir überschlagen, welchen Einfluß das Recht und die Rechtsprechung auf das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft ausüben, werden wir gut daran tun, diese Empfehlung ernst zu nehmen. Die Macht des Rechts scheint allgegenwärtig. Und die Geschichte der Rechtsbeugung ist ebenso lang wie die Geschichte der Rechtssetzung, weil Unrecht eben nicht nur durch Beugung von Recht, sondern ebenso sehr durch Setzung von Recht entsteht.
Das neue Heft von „Zeitgeschichte regional“ widmet sich dem Thema der Justizgeschichte in unserer Region. Es werden einige ausgewählte Aspekte in den Blick gehoben. Wir schließen damit an Beiträge an, die in früheren Heften schon eingestreut waren.
Das Heft beginnt mit einem Aufsatz von Kai Langer. Seine Perspektive ist einigermaßen ungewöhnlich: Mit dem „Fall Flotow“ wird einmal die Opfergeschichte eines Überzeugungstäters geschildert und andererseits dessen justizielle Folgen für Personen, die den Verdacht des Mordes öffentlich aussprachen. Andreas von Flotow, der 1932 die SA-Führung der drei Nordbereiche Pommern, Mecklenburg und Lübeck erhalten hatte, verlor seine Macht bereits Anfang 1933. „Aufstieg und Fall“ des unter dubiosen Umständen am Hitlergeburtstag 1933 erschossenen SA-Führers werden beleuchtet. Einen anderen Aspekt stellt Dirk Alvermann in den Mittelpunkt: die „Aberkennung akademischer Grade“ an der pommerschen Landesuniversität nach 1933 „und ihre Aufhebung 1945-1966“. Alvermann weist damit auf eine noch bis in die jüngste Gegenwart vergessene Opfergruppe des totalitären Zeitalters hin.
Eine der letzten Stufen nationalsozialistischer Kriminalisierungskriminalität nimmt Andreas Wagner in den Blick. Er geht auf die gnadenlose Strafpraxis gegen Plünderer im Zweiten Weltkrieg ein. Auffällig viele Rostocker Bürger wurden mit Tötung bestraft. Ganz sachlich-schlicht und gerade darum anrührend wird von extrem kurzen Prozessen und von letzten Lebensstunden anhand des Sterberegisters der eigentlich illegalen Hinrichtungsstätte Bützow-Dreibergen berichtet. Vom selben Verfasser ist in der Rubrik „Regionale Geschichtsarbeit“ ein Bericht zum erstmaligen Treffen ehemaliger politischer Häftlinge in Bützow zu finden.
In dem Beitrag „Die Staatsmacht und das Recht der Gnade“ dokumentiert Irmfried Garbe zwei Gnadengesuche, die der Greifswalder Rektor Gerhardt Katsch für Studenten seiner Universität im Jahr des großen Jubiläums (1956) aufsetzte. Diese Dokumente gehören einerseits in die Geschichte politischer Justiz, andererseits in Geschichte couragierten Anstands. Sie zeigen aber auch den komplexen Hintergrund der wiederholten Gnadengesuche.
Hans-Hermann Dirksen nimmt in seiner bewegenden Fall-Beschreibung der Martha Knie aus dem vorpommerschen Leopoldshagen die Perspektive eines Justizopfers ein. Mit Martha Knie, einer einfachen, unpolitischen Frau vom Lande, tritt eine Person in unseren Gesichtskreis, die lediglich ihr Menschenrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit in Anspruch genommen hatte. Dies war ihr nach den auch damals gültigen Verfassungen zugesichert. Und doch fiel sie als Angehörige der Gemeinschaft der „ernsten Bibelforscher“ (Zeugen Jehovas) unter die Kriminalisierung beider deutscher Diktaturen. Martha Knie überstand neun Jahre KZ bzw. Zivilhaft. Die Haftbedingungen der frühen DDR setzten ihrem Leben vor genau 50 Jahren ein frühes Ende.
Neben diesen Aspekten der „Justizgeschichte“ konnten drei Nachträge zur „Mediengeschichte“ (siehe Heft 1/2003) aufgenommen werden: Hermann Langer berichtet über einen Mann, dessen religiös-mythologische Spekulationen in die Religionspolitik des Dritten Reiches hinüberführen. Mit Herman Wirths Aspiration auf eine Honorarprofessur in Rostock 1932/33 wird zugleich ein Baustein zur Mediengeschichte geboten, der ihren weltanschaulich-politischen Sektor zwischen 1930 und 1934 kennzeichnet.
Kyra T. Inachin erzählt die Geschichte des Propagandafilms „Kolberg“, der in der Schlußphase des Zweiten Weltkrieges entstand. Unter enormem Aufwand als „Durchhaltefilm“ konzipiert und von Veit Harlan mit prominenter Besetzung produziert, beleuchtet er den deutschen Wahnwitz auf
eigentümlich tragikomische Weise.
Stefan Matysiak schließt an, indem er den sowjetisch-deutschen „Militärzeitungen“ im Frühsommer 1945 nachgeht. Es dürfte sich um die erste Zusammenschau der Militärzeitungsproduktion unter sowjetischer Administration auf mecklenburgisch-pommerschem Territorium handeln.
Als ein Dokument eigener Güte kommen Paul Fordrans Erinnerungen an seine Tätigkeit im Konstruktionsbüro der Rostocker Flugzeugwerke Ernst Heinkels zur Sprache. Damit wird der Heinkel-Debatte des letzten Jahres ein weiterer Aspekt hinzugefügt. Fordran beschreibt anschaulich, gewürzt mit einem kräftigen Schuß Esprit und reich an Details, Höhenflüge und Verstiegenheiten des deutschen Flugzeugwesens. Sein Rückblick führt von Rostock über Wien bis nach Mittweida durch die Jahre 1936-1946.
Einen spannenden Blick auf die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ entwirft Harald Schmid, der zu den ständigen Begleitern des Peenemünder Ausstellungsereignisses gehörte. Er weist darauf hin, daß die seit 2001 völlig neu konzipierte Exposition des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum ersten und einzigen Mal an einem Ort zu sehen war, der unmittelbar im Zusammenhang der Wehrmacht und ihrer Verbrechensgeschichte steht.
Gerechtigkeit – Justizia ist nach Ovid die letzte Göttin gewesen, die die Erde gen Himmel verlassen hat: „im eisernen Zeitalter“. Leibhaftig tauchte sie dann aber im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor deutschen Gerichtsgebäuden wieder auf. Seitdem gibt es Bildnisse der Göttin der Gerechtigkeit auch an mecklenburgischen und pommerschen Gerichtsstätten. In ihrer formvollendeten Schönheit verkörpert sie die reine Lauterkeit, die in ihren Händen Waage und Schwert hält, also über Unparteilichkeit und Strenge verfügt. Verbundene Augen deuten Unbestechlichkeit an.
Es ist uns willkommen, wenn weitere Aspekte des Verhältnisses von Recht und Justiz in unserer Region erschlossen werden. Wir wollen Sie ermuntern zu lesen, zu fragen und zu forschen.

Ihre Redaktion