Beschreibung
Zum zweiten Mal in Folge erscheint „Zeitgeschichte regional“ als Doppelheft. Das bedeutet freilich nicht, dass dies zur Regel und die Zeitschrift künftig zu einem Jahrbuch werden wird. Die Entscheidung der Redaktion ist vielmehr durch die hohe Anzahl interessanter Beiträge bedingt, die bereits im Frühjahr dieses Jahres vorlagen; zudem erscheint am Ende des Jahres noch ein Sonderheft.
Den Auftakt zur diesjährigen Ausgabe machen zwei lokalhistorische Studien, die über den Rahmen der Zeitgeschichte hinausgehen: Hermann Behrens widmet sich der Geschichte der Gemeinde Klein Vielen bei Neustrelitz, die im Jahr 2020 ihr 850-jähriges Jubiläum feierte. Gabriele Förster rekonstruiert die Geschichte der einklassigen Dorfschule in Mönchow auf Usedom vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu ihrer Schließung im Jahr 1938. Beide Beiträge zeigen eindrucksvoll, wie sich die großen Ereignisse und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Kleinen auswirkten, und belegen damit das Erkenntnispotential mikrohistorischer Ansätze. Ähnliches gilt für den Beitrag von Ottfried Thümmel, der die Tötung zweier SA-Funktionäre durch eine Gruppe von KPD-Mitgliedern in der Nähe der hinterpommerschen Stadt Köslin (heute Koszalin, Polen) zum Thema hat. Das Ereignis ging als „Gollenschlacht“ in die Geschichte ein und steht exemplarisch für die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der extremen Rechten und der extremen Linken am Ende der Weimarer Republik. Thümmel rekonstruiert nicht nur die Ereignisse selbst, sondern geht auch auf die – verklärende – Traditionspflege nach 1945 ein.
Mit einem weithin vergessenen Kapitel der NS-Geschichte befasst sich Lukas Augustat: Am Beispiel der in der Maurinmühle bei Carlow im äußersten Westen Mecklenburgs untergebrachten „Ausländerkinder-Pflegestätte“ stellt er den brutalen Umgang des NS-Regimes mit Kindern von Zwangsarbeiterinnen während des Zweiten Weltkriegs dar. Eleonore Wolf skizziert die Planung eines Kirchenbaus im Norden der Stadt Neubrandenburg, der wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs nie realisiert wurde. Die Schwierigkeiten von NS-Opfern, eine Entschädigung zu erhalten, zeigt Ortwin Pelc beispielhaft auf. Er schildert das Schicksal einer polnischen Arbeiterin, die wegen ihrer Hilfe für einen Juden in Schwaan in ein Konzentrationslager verbracht wurde. Zehn Jahre lang musste sie mit bundesdeutschen Behörden kämpfen, bevor ihr 1967 eine Entschädigung zugesprochen wurde.
Zwei ganz Mecklenburg betreffende Beiträge stammen aus den Federn von Bernd Kasten und Matthias Manke. Kasten befasst sich mit dem Gebrauch und der politischen Instrumentalisierung der niederdeutschen Sprache in Mecklenburg. Während das NS-Regime den Dialekt aus ideologischen Gründen förderte, trug es durch die Ansiedlung von Bauern aus dem südwestdeutschen Raum auf mecklenburgischen Gütern gleichzeitig zu seinem Niedergang bei. Die SED wiederum verfocht in den 1950er Jahren eine auf eine einheitliche deutsche Sprache zielende Politik; erst unter Erich Honecker kam es ab Ende der 1970er Jahre zu einer kleinen Renaissance des Niederdeutschen im Norden der DDR. Manke beschäftigt sich eingehend mit der Vereinigung der über 200 Jahre getrennten mecklenburgischen Länder, die am 1. Januar 1934 wirksam wurde. Während die NS-Propaganda suggerierte, die Zusammenlegung sei ein Ergebnis des NSDAP-Parteitags von 1933 gewesen, hatten die Vorbereitungen dafür tatsächlich weit früher begonnen.
Drei Aufsätze blicken über den Tellerrand Mecklenburg-Vorpommerns hinaus und betreiben damit gleichsam transregionale Geschichtsschreibung. Wolf Karge berichtet über den Erwerb und die Bewirtschaftung mecklenburgischer Güter durch die Großindustriellen Fritz und Hans Thyssen aus Mülheim an der Ruhr. Fritz Thyssen erwarb im Jahr 1925 das Gut Neu Schlagsdorf bei Schwerin, wurde aber 1939 von den Nationalsozialisten enteignet und flüchtete mit seiner Familie in die Schweiz. Sein Cousin Hans Thyssen kaufte 1926 das Gut Groß Lüsewitz in der Nähe von Rostock, das er im Zuge der Bodenreform im Herbst 1945 verlor. Markus Graumann beleuchtet Initiativen zur Gesamtdeutschen Arbeit in den Kreisen Rostock und Bad Doberan vor dem Hintergrund der diesbezüglich wechselvollen Politik der SED in den 1950er und den beginnenden 1960er Jahren. Einem ganz besonderen auswärtigen Gast widmet sich der Beitrag von Sebastian Eichler. Im Juni 1972 besuchte der kommunistische Regierungschef Kubas, Fidel Castro, im Zuge einer „Tournee“ durch die sozialistischen Staaten Osteuropas auch Rostock. Den zeitgenössischen Presseberichten zufolge verfielen die Einwohner der Hafenstadt angesichts des Besuchs des „Comandante“ einem regelrechten „Castro-Fieber“.
Als „Dokument“ stellt in dieser Ausgabe Matthias Manke den Antrag des Kreistags von Malchin vor, der Stadt Stavenhagen den Namenszusatz „Reuterstadt“ zu verleihen, den sie bis heute trägt. In der „Biographischen Skizze“ porträtiert Peter Danker-Carstensen Astrid Dibbelt, die Ehefrau des Gründers des Deutschen Meeresmuseums Stralsund Otto Dibbelt. Diese unterstützte nicht nur ihren Mann beim Aufbau des Museums, sondern trat auch als Leiterin einer Webschule, als Pilzsachverständige und als Mäzenatin hervor.
Von der lebendigen Geschichtskultur Mecklenburg-Vorpommerns zeugt die in der vorliegenden Ausgabe besonders reichhaltige Rubrik „Regionale Geschichtsarbeit“. Unter den sieben Beiträgen finden sich der Bericht über eine Mitmach-Ausstellung zu Protest, Opposition und Verweigerung in der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock, die Eröffnungsrede zu einer Ausstellung der Textilkünstlerin Christa Jeitner in der Kunstsammlung Neubrandenburg sowie ein Porträt des Museums „Lassaner Mühle“ in Vorpommern. In den „Archivmitteilungen“ schließlich stellt Jens Hoffmann das Studienarchiv Umweltgeschichte mit Sitz in Neubrandenburg vor.
Insgesamt 14 Rezensionen sowie die Anzeige einer Vielzahl von Neuerscheinungen runden wie üblich das Heft ab. Wir wünschen den Lesern dieser Doppelausgabe eine anregende Lektüre.
Ihre Redaktion