Zeitgeschichte regional | 27. Jg., 2023, Heft 1+2

16,00 

Beschreibung

Die Zeitgeschichte bleibt eine vielseitige Spezialdisziplin der Historiografie, die sich besonders auch durch die erweiterten Möglichkeiten der Nutzung von Oral History, Fotografie, Ton- und Filmdokumenten neben dem klassischen Archiv- und Bibliotheksmaterial aus beschriebenem und bedrucktem Papier auszeichnet. Seltener werden dreidimensionale Sachzeugen, z.B. aus Museen und privaten Sammlungen, genutzt. Andererseits sind hier viel stärker quellenkritische Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gefordert, ganz abgesehen von personenbezogenem Datenschutz für die jüngere Zeit.
Insofern erstaunt auch dieses Heft wieder einmal durch seine Vielfalt und Qualität der Beiträge.
Den Auftakt bildet ein Beitrag mit den Erkenntnissen durch die Nutzung digitaler Möglichkeiten für die Sichtbarmachung politischer Phänomene, wie sie sich sehr detailliert durch die Massendaten bei den Wahlen in Mecklenburg in der Zeit der Weimarer Republik auswerten lassen.
Dem folgt ein Beitrag zur „Erblehre und Eugenik“ bzw. zu ihrer Perversion durch die Nationalsozialisten an der Universität Greifswald. Mit der tendenziösen „Wissenschaftlichkeit“ dieser „Vererbungswissenschaft“ durch ein entsprechendes Institut wurde Zuarbeit zur Massentötung von Menschen geleistet, die als „lebensunwert“ oder „rassisch minderwertig“ eingestuft wurden. Die subtile Gratwanderung zwischen Wissenschaft und politisch-ideologischem Zwang erlaubt Gleichnisse bis in die heutige Zeit.
Einen anderen Aspekt des Nationalsozialismus beleuchtet der Beitrag zur Bombardierung von Anklam als Rüstungsstandort der Luftwaffe während des Zweiten Weltkrieges aus einer sehr persönlichen Perspektive der Erinnerung.
In dieselbe Zeit führt der Beitrag zur Behandlung jüdischer Offiziere, die im Kriegsgefangenenlager Stalag Luft I in Barth inhaftiert waren. Die Schonung bzw. Gleichbehandlung dieser Gefangenengruppe mit den anderen Häftlingen durch das deutsche Bewachungspersonal ist eines der Phänomene des Zweiten Weltkrieges. Detailliert, reich bebildert und kenntnisreich wird hier ein Thema aus der ehrenamtlichen Tätigkeit in der „Dokumentationsund Begegnungsstätte Barth e.V.“ heraus vorgestellt, was große Hochachtung verdient.
In die unmittelbare Nachkriegszeit führt der Beitrag zur Beisetzung von KZ-Opfern aus dem Lager Wöbbelin-Reiherhorst in Schwerin. Die Vor-Augen-Führung der deutschen Verbrechen und die Konfrontation der überlebenden deutschen Bevölkerung vor Ort damit durch die amerikanischen Besatzungstruppen gehören zu den eindrucksvollen und (bis heute) symbolträchtigen Maßnahmen der Besatzer. Als weitere erste „Erziehungsmaßnahme“ ist die Übertragung der Arbeiten für die Bestattung an die im weitesten Sinne Mitschuldigen an diesen Opfern zu sehen. Spätere Ritualisierungen im Gedenken an die Opfer durch die DDR an diesem Ort der Beisetzung haben teilweise die Kraft der ersten Maßnahmen verwässern lassen. Deshalb ist es gut, hier diese Chronologie eines „Platzes der OdF“ (Opfer des Faschismus) darzulegen und auf die ursprüngliche Intention zurückzuführen.
Eine andere Form des Umgangs mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine schlimmsten Verbrechen an Menschen in Konzentrationslagern ist in Malchow auf dem Gelände der ehemaligen Dynamit AG zu verzeichnen. Sehr differenziert wird in dem Aufsatz der Umgang mit den Hinterlassenschaften der Rüstungsindustrie und der Bestandteile des Häftlingslagers durch die Rote Armee und die deutschen Bewohner aufgearbeitet. Wesentliche Bestandteile sind darin auch das Gedenken an die und der Umgang mit den ermordeten Opfern in diesem KZ.
Dann folgt inhaltlich ein Sprung in einen Spezialbereich der DDR. Die verschiedenen Stadien des Kalten Krieges zwischen den beiden politischen Lagern im Osten und im Westen waren nicht nur von Konfrontation und Drohgebärden geprägt, sondern erforderten in einigen Bereichen pragmatische Lösungen und Arbeiten unterhalb der offiziellen politischen Verlautbarungen. Dazu gehörte insbesondere der Umgang mit und auf der Ostsee, zu der damals immerhin sieben Staaten direkten Zugang hatten. Zu den Möglichkeiten zählten die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Fachleuten und die Organisation nichtstaatlicher Initiativen. Diese Arbeit verlief meist „geräuschlos“ und sachorientiert. Kenntnisreich und mit Quellen belegt, wird in diesem Aufsatz von einem an diesen Prozessen Beteiligten die Entwicklung beschrieben.
Ebenfalls im maritimen Bereich bewegt sich der Beitrag zum Wiederaufbau der Werftindustrie an der Ostseeküste in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Die rigorose Einflussnahme der UdSSR auf diesen wichtigen Industriezweig zum Nutzen der Siegermacht ist eines der dunklen Kapitel in der Nachkriegsgeschichte der „befreundeten“ Staaten. Wirtschaftlich unsinnige und unrentable Aufträge und Forderungen haben dieser Industrie in
ihren Anfängen nach dem Kriegsende sehr geschadet.
Eine besondere Form der wissenschaftlichen Aufarbeitung im Rahmen von zeitgeschichtlichen Themen sind die Erinnerungsberichte. Die Informationen zu den „Beat-Gottesdiensten“ der Greifswalder Landeskirche sind in der Verknüpfung von privatem Archivmaterial der Beteiligten und den persönlichen Erinnerungen der drei Autoren zu einem lebendigen Bericht über eine ungewöhnliche Initiative in einer politischen „Grauzone“ der DDR zusammengetragen worden.
Im Abschnitt „Das Dokument“ wird ein brisantes Tondokument zur Umbenennung der „Pommerschen Evangelischen Kirche“ in „Evangelische Landeskirche Greifswald“ analysiert und kommentiert.
Die „Biographische Skizze“ geht der Verflechtung bzw. der Distanz des fürstlichen Hauses Mecklenburg bzw. seiner Vertreter mit und gegenüber dem Nationalsozialismus nach.
Im Interview wird der Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Burkhard Bley, befragt.
Weitere Beiträge belegen die „Regionale Geschichtsarbeit“ und das „Historische Lernen“ an zahlreichen Orten und durch verschiedene Projekte in Mecklenburg-Vorpommern. Archivmitteilungen, Personalia und der ausführliche
Rezensionsteil runden auch dieses Heft ab.

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