Zeitgeschichte regional | 26. Jg., 2022, Heft 2

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Beschreibung

Während sich die Geschichtswissenschaft in den 1970er Jahren gern quantifizierend mit Statistiken und großen Zahlen beschäftigte, gilt das Interesse heute mehr dem Einzelschicksal. Biographische und prosopographische Studien erfreuen sich bis in die Gegenwart großer Beliebtheit und prägen auch das vorliegende Heft von „Zeitgeschichte regional“.
Im ersten Beitrag beschäftigt sich Kerstin Hohner mit dem bekannten Literaturkritiker und Cheflektor des Hinstorff Verlages Kurt Batt. Aus den vielen von der Autorin geführten Gesprächen mit Schriftstellern und Verlagsmitarbeitern ergibt sich das beeindruckende Bild eines ebenso fachlich kompetenten wie menschlich zugewandten Lektors, der sich mit beeindruckender Zivilcourage gleichermaßen weigerte, in die SED einzutreten wie als Spitzel für das MfS zu arbeiten. Viele wichtige und oft auch nicht unumstrittene Autoren fanden durch Batt den Weg zum Hinstorff Verlag. Seit Anfang der 1970er Jahre erhöhte sich der politische Druck auf den unbequemen Lektor, der 1974 schließlich abgelöst und kurz darauf – gesundheitlich zermürbt – im Alter von nur 43 Jahren einem Herzinfarkt erlag. Auch der folgende Beitrag von Wolfgang Matthäus über die Erlebnisse des Gefreiten Günther Sager aus Warnemünde als Soldat in Frankreich 1943-1945 hat einen biographischen Ansatz. Die immerhin 110 von ihm hinterlassenen Feldpostbriefe ermöglichen eine detaillierte Rekonstruktion seiner militärischen Laufbahn, seines Lebens im besetzten Frankreich und seiner Einschätzung des Kriegsverlaufs.
Die folgenden beiden Aufsätze beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit der unmittelbaren Nachkriegszeit. Bernd Kasten untersucht an Hand von Archivquellen die 1946 stattgefundene strafrechtliche Verfolgung der in Schwerin und Neustrelitz begangenen NS-Euthanasieverbrechen. Begünstigt durch die ungewöhnlich gute Quellenlage, erlaubt dieser Fall auch einen Vergleich der Verfahrensweise der sowjetischen Militärgerichte und der deutschen Justiz. Ganz anders ist der Ansatz von Katharina Kurowski, die für ihre Bachelorarbeit in vier ehemaligen Gutsdörfern in Vorpommern Zeitzeugen dazu befragt hat, inwieweit ihrer Ansicht nach die Bodenreform zur Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen beigetragen hat. Die in ausführlichen Zitaten wiedergegebenen Berichte zeigen ein ungemein anschauliches Bild der Lebenssituation in diesen Dörfern, von dem allgegenwärtigen Mangel der ersten Nachkriegsjahre bis zum Stolz auf das trotz alledem Erreichte. Im daran anschließenden Aufsatz schildert Peter Danker-Carstensen die 1988 im Rahmen der Städtepartnerschaft der Städte Kiel und Stralsund im Kieler Stadtmuseum gezeigte Ausstellung „Meer und Museum“ des Stralsunder Meeresmuseums, über die wir dank der Tätigkeit der Stralsunder Stadträtin Ingeborg Homann, die als IM „Inge“ dem MfS ausführlich über alles berichtete, sehr gut informiert sind. Der Beitrag zeigt eindrücklich, dass die DDR in diesen Städtepartnerschaften ein Mittel zu ihrer internationalen politischen Aufwertung sah und jede Form von informellen deutsch-deutschen Begegnungen tunlichst zu verhindern trachtete.
In der Rubrik „Biographische Skizze“ widmet sich Matthias Manke der Rostocker Historikerin Hildegard Thierfelder, der es 1942 als einer der ersten Frauen in Deutschland gelang, in die bis dahin allein Männern vorbehaltene Domäne des Archivarsberufs vorzudringen. Matthias Manke schildert Thierfelders wechselvolle Laufbahn, die sie von Troppau über Rostock und Köln bis nach Lüneburg führte, wobei sie immer wieder gleichermaßen mit männlichen Vorurteilen wie politischer Bevormundung zu kämpfen hatte. In der Rubrik „Das Dokument“ untersucht Marie Behrendt eine 1917 aus Arendsee (heute Kühlungsborn) versandte Postkarte, die Aufschluss über antisemitische Vorurteile nichtjüdischer Badegäste gibt, und ordnet dieses Dokument quellenkritisch ein.
Andreas Wagner interviewte für „Zeitgeschichte regional“ den Biologen Klaus Jarmatz, der von 1990 bis 2020 die Verwaltung des UNESCO-Biosphärenreservats Schaalsee geleitet hat. Die einmalige Gelegenheit, die sich hier 1990 auftat, ist entschlossen genutzt worden, so dass es in Westmecklenburg – anders als im angrenzenden Schleswig- Holstein – gelungen ist, unter Einbeziehung und mit breiter Zustimmung der Bevölkerung ein Biosphärenreservat einzurichten.
Die Rubrik „Regionale Geschichtsarbeit“ beginnt mit dem Bericht einer Greifswalder Forschergruppe zu den Todesfällen bei Fluchtversuchen über die Ostsee. Nach akribischen Recherchen für die Zeit von 1961 bis 1989 kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass es in 126 Fällen sicher ist, dass Ertrunkene bei einem Fluchtversuch ums Leben kamen, während sich in 244 Fällen die Todesumstände nicht sicher klären ließen. Außer dieser verdienstvollen statistischen Erhebung werden noch einige besonders gut dokumentierte Einzelschicksale vorgestellt. Den zweiten Beitrag in dieser Rubrik bildet ein Bericht von Luisa Taschner über die im Mai 2022 in Peenemünde abgehaltene Tagung zu „Multiperspektivität, Handlungsorientierung, Deutungsoffenheit und Kreativität in der Vermittlung von Diktatur- und Kriegsgeschichten“. Anlass der Tagung war die Frage, wie nach Ende der Zeitzeugenschaft weiterhin eine Emotionen weckende historische Bildungsarbeit
gestaltet werden kann.
In der Rubrik „Historisches Lernen“ berichtet Dietmar Roglitz über die im Mai 2022 erfolgte Verlegung von zehn Stolpersteinen für in Penkun geborene Juden. Im anschließenden Beitrag schildern drei Studentinnen der Universität Greifswald ihre Erfahrungen bei der Verwendung des Films „Über Leben in Demmin“ von Martin Farkas über die zahlreichen Suizide bei Kriegsende in Demmin im Rahmen eines geschichtsdidaktischen Seminars, das in Zusammenarbeit mit der Jona-Schule in Stralsund durchgeführt wurde.
Erik Gurgsdies würdigt in einem ausführlichen Nachruf die Verdienste des am 23. August 2022 verstorbenen Matthias Pfüller, des langjährigen Vorsitzenden des Vereins Politische Memoriale Mecklenburg-Vorpommern. Den Schluss bilden wie immer die Rezensionen und Anzeigen von Neuerscheinungen zeitgeschichtlicher Veröffentlichungen aus der Region.

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