Zeitgeschichte regional | 24. Jg., 2020, Heft 2

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Beschreibung

Eins bleibt in diesem denkwürdigen Jahr der SARS-CoV-2-Pandemie ganz normal: Die Heftfolge von „Zeitgeschichte regional“ hat sich wieder in gewohnter Weise realisieren lassen. Sie halten das Winterheft 2020 in den Händen. Einen herzlichen Dank dafür allen Beiträgern, die dafür sorgten, dass auch unser zweites Heft im neuen Outfit einen bunten Strauß an historischen Studien und aktuellen Beobachtungen bereithält.
Die ersten drei Aufsätze geben diesem Heft auch einen gewissen Schwerpunkt: die Kunst- und Architekturgeschichte.
Werner Sarholz lenkt mit seiner ansehnlichen Erinnerung über den ambitionierten Kunstfotografen Franz Goerke den Blick auf die Anfänge der mecklenburgischen und pommerschen Landschaftsfotografie. Der in der Fotografiegeschichte einschlägig bekannte Berliner Bankkaufmann verbreitete mit seinen zahlreichen Lichtbildervorträgen die Amateurfotografie und ermutigte Hobbyfotografen zu einem bewussten Dokumentieren. Wie Sarholz zeigen kann, versuchte Goerke zu ästhetisch anspruchsvollen Motiv- und Bildgestaltungen zu erziehen.
Die architektonische Zutat von Paul Bonatz zur Rostocker Stadt- und Hafensilhouette untersucht Jörg Kirchner. Das bildprägende Getreidesilo von 1935 hat eine spannende Geschichte. Seine Planung, Ausführung, Veränderung und Erhaltung werden auf reicher Quellengrundlage en detail erläutert. Da diese Form bildprägender Getreidespeicher mehrfach in mecklenburgischen und pommerschen Städten zu finden sind, reiht sich Kirchners Spezialaufsatz zugleich in die Architekturgeschichte markanter Industriebauten Norddeutschlands ein.
Hans Hesse und Elke Purpus stießen durch ihre Recherchen zu einem Relikt aus dem bildplastischen Schaffen Willy Mellers auf das bislang völlig unbekannte Konzept der nationalsozialistischen Programmkunst am begonnenen, aber nie fertig gestellten „Kraft-durch-Freude“-Bad in Prora auf der Insel Rügen. Mit dem Stierreiter in Ochsenfurth/Main hat sich ein einzelnes Kunstwerk aus der von Meller zentral geplanten Brunnenanlage bis heute erhalten. Dieser Stierreiter war als Symbol der „Kraft“ geschaffen worden, während von der – weiblich symbolisierten – „Freude“ nur das Kopfrelikt erhalten ist. Die Autoren gehen in ihrer präzisen Recherche dem bildplastischen Gesamtkonzept des exorbitant profitablen Kunstschaffens von Willy Meller für Prora nach und thematisieren den bisher erstaunlich unbedarften Umgang mit dem Stierreiter durch die fränkische Stadt und ihre Denkmalbehörde. Mellers Hauptbeteiligung an der Kunstausstattung der NSDAP-Ordensburg Krössinsee bei Falkenburg/Pommern bildet eine Vorlaufgeschichte zur Bildästhetik des KdF-Bades.
Den besonderen Raum sowjetischer Ehrenfriedhöfe betrachtet Eckhard Oberdörfer im Rahmen weiterer vorpommerscher Friedhofsanlagen anhand der drei Greifswalder Bezirksfriedhöfe für Sowjetsoldaten. Dabei steht weniger die – überwiegend anspruchslose – Denkmal- und Platzgestaltung im Fokus der Untersuchung, umso mehr dagegen werden die beauflagte Planung und Finanzierung, ihre Belegung, Nutzung und Erhaltung behandelt. Oberdörfer kann anhand von Greifswalder Archivalien eine erstaunlich hohe Zahl von umgekommenen und verstorbenen sowjetischen Soldaten und Offizieren des Greifswalder Raums belegen. Mitbetrachtet wird die faktische Mischbelegung dieser Friedhöfe durch Bestattung alliierter Kriegsgefangener und anderer Opfergruppen des Zweiten Weltkrieges.
Hans-Martin Harder untersucht in seinem Beitrag die historischen Implikationen der Präambel zur Pommerschen Kirchenordnung von 1950. Die sukzessive Weiterentwicklung dieses zentralen Verfassungstextes der pommerschen Landeskirche bis 2012 macht auch deutlich, dass Verfassungstexte spannende Zeitdokumente sind.
In ihrer Sichtung der Objektschutzakten der Schweriner Stasi-Zentrale am Demmlerplatz legt Elise Catrain nicht zuletzt psychopatische Züge der DDR-Überwachungsorgane frei. Die Dokumentation der Gassi-Spaziergänge eines einsamen Hundehalters beleuchtet auf kuriose Weise die kruden Spionagebefürchtungen des DDR-Sicherheitsapparates.
Der hochaktuellen Debatte um die Archivsituation Vorpommerns fügt der Schweriner Archivar Matthias Manke eine kritisch-gepfefferte Sichtung der archivpolitischen Verlautbarungen samt ihrem Echo in den Medien zwischen 1990 und 2020 hinzu. Möge sie zur inhaltlichen Klärung der offenbar herrschenden Interessenkonfusion beitragen!
Der Stettiner Archivar Paweł Gut gibt in seinem informativen Beitrag einen nützlichen Überblick zu den im Szczeciner Staatsarchiv bereitgehaltenen zeitgeschichtlichen Quellen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anders als im Vorpommerschen Landesarchiv Greifswald ist die dortige Benutzungssituation alles andere als desolat. Nur hindern zur Zeit noch die Einschränkungen der Pandemiebekämpfung die üblichen Zugangswege.
Matthias Manke weist in seinem zweiten Beitrag auf das jüngst etablierte Frauenarchiv im Landeshauptarchiv Schwerin hin, dessen Erweiterung und Digitalisierung geplant ist.
Unser ZGR-Redaktionsmitglied Ortwin Pelc steuert zwei Beiträge bei: eine eindrückliche Generalsichtung der Publikationen, die aus Anlass des 100-jährigen Gedenkjubiläums der Revolution von 1918/19 entstanden, sowie eine Vorstellung der Ausstellungen, die die KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Hamburger Rathaus seit 2001 veranstaltete.
Die bemerkenswerte Biographie des Rostocker Historikers, SED-Hochschulsekretärs und Dozenten Heinz Koch schildern Martin Buchsteiner und Wolf Karge in ihrem facettenreichen Nachruf. Im Leben Kochs, eines systemöffnenden Parteikaders, spiegeln sich Transformationen und Brüche des 20. Jahrhunderts, aber auch uneingelöste Konzeptionen fachübergreifender Lernmodelle, die dieser lernbereite Mann 1989/90 verfolgte.
Wie immer folgen am Schluss des Heftes Rezensionen zu zeitgeschichtlichen Neuerscheinungen, die für manche unserer Leser zum ersten Teil der Lektüre gehören. Wir wünschen dabei viele spannende Entdeckungen.

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