Beschreibung
Zeitgeschichte als die Geschichte der Miterlebenden, der Erlebnisgeneration bereitet sich auf einen Umbruch
vor, der sich mit dieser Ausgabe von „Zeitgeschichte regional“ einmal mehr abzuzeichnen scheint. Die DDR-
Zeit steht deutlich im Mittelpunkt dieses Heftes. Dies ist jedoch mitnichten Ausdruck einer strategischen
Neuausrichtung dieser Zeitschrift.
Sicher, die Zeitgenossen kaiserzeitlicher, selbst Weimarer Verhältnisse sind heute kaum noch unter den
Lebenden. Auch an die Zeit des Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit erinnern sich heute vor
allem Menschen, die diese als Kinder oder Jugendliche erlebten, wohingegen die Gruppe der diese Perioden
Gestaltenden im Schwinden begriffen ist. Die Redaktion wird sich mit dieser Entwicklung weiter
auseinandersetzen. Die Menschen in Deutschland haben – statistisch betrachtet – eine immer höhere
Lebenserwartung. Der Zeitgeschichte eine ebensolche einzuräumen erscheint da nur folgerichtig.
Für dieses Heft ergab sich die thematische Konzentration jedoch aus dem Umstand, dass eine Reihe von
geplanten Beiträgen aufgeschoben werden musste, da die angefragten Autoren darum gebeten hatten. Das
ursprüngliche Rahmenthema „Musik“ wird also später behandelt werden. Hinter die Erscheinung zu sehen – dies
ist der erklärte Antrieb von Daniel Hechler und Peer Pasternack, den Umgang der Hochschulen in
Mecklenburg-Vorpommern mit ihrer DDR-Geschichte zu analysieren. Der Ausgangspunkt ist ein Vorurteil (im
Wortsinn), wonach schlichtweg der Wille zur Aufarbeitung fehle. Soviel sei vorweg genommen: Die
Einschätzung der Autoren fällt weitaus differenzierter aus. Der DDR-Geschichte im Kleinen, ja Kleinsten,
widmet sich der Beitrag von Wolfgang Gräfe. Er schildert den 1963 peinlich gescheiterten Versuch der
Greifswalder Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit, die dortige evangelische
Studentengemeinde mit einem Abhörsender, einer „Wanze“, zu überwachen. Der Überwachungsauftrag des
Ministeriums für Staatssicherheit steht auch im Mittelpunkt der Untersuchung von Daniela Münkel. In der
Rubrik „Das Dokument“ stellt sie einen Auszug aus der gerade erschienenen Edition „Die geheimen Berichte an
die SED-Führung“, Jahrgang 1961, über die Stimmung der Bevölkerung in den drei Nordbezirken der DDR im
September 1961, also nach der Grenzabriegelung, vor. Einen interessanten anderen Blick auf die DDR finden
wir in dem Bericht Peter Nöldechens, der sich als Korrespondent der „Westfälischen Rundschau“ im Norden der
DDR auf Spurensuche nach dem Jerichow Uwe Johnsons gemacht hatte und über dessen Literatur Mecklenburg
entdeckte. Eine Entdeckung anderer Art dürfte der Erinnerungsbericht von Tilo Braune über die Entstehung
der „Eldenaer Jazz Evenings“ zu Beginn der 1980er Jahre verheißen. Initiative und Selbsthilfe unter
Nutzung, Instrumentalisierung oder Umgehung der vorgegebenen Strukturen gehören zur nachgerade mythischen
Sozialisationserfahrung DDR-Geborener. Wie die 1980 geborene Idee, „,dem einzigen Dorf der DDR mit
Universität‘ […] ein wenig Jazz einzuhauchen“, zur bis heute spürbaren materiellen Gewalt wurde, weil sie
ein Lebensgefühl ausdrückte, ist eine Geschichte (noch dazu die einzige Musikgeschichte in diesem Heft, der
noch weitere folgen sollen), die geeignet ist, manche Vorstellungen über die DDR, insbesondere in Bezug auf
das nördliche „Tal der Ahnungslosen“, gegen den Strich zu bürsten.
Die biographische Skizze in dieser Ausgabe bezieht sich auch auf die Greifswalder Universität, durchbricht
aber den dominanten DDR-Fokus. Günter und Ralf Ewert präsentieren nach Porträts über Alfred Lublin und
Victor van der Reis die Geschichte eines weiteren Mediziners, der 1933 die Medizinische Universitätsklinik
verlassen musste: Heinrich Lauber. Wie bei seinen Kollegen referieren die Autoren die zusammengetragenen
Zeugnisse für den Lebensweg Laubers (von seiner Geburt über seine akademische Karriere in Deutschland bis
zu seinem englischen Exil, das ihm bis zu seinem Tod Heimat bot) als einen Forschungsbericht.
Berichte über die Arbeit an zeitgeschichtlichen Themen im Land gehören wie immer zum Profil von
„Zeitgeschichte regional“. Simone Labs hatte im Herbst 2009 eine Tagung „Omas Pole“ über Zwangsarbeit in
Mecklenburg während des Zweiten Weltkrieges organisiert. Der „Polenfriedhof“ von
Conow im Landkreis Ludwigslust spielte in deren Verlauf eine Rolle. RegionalschülerInnen aus Malliß
recherchierten und engagierten sich mit ihrer Lehrerin im Rahmen eines Geschichtsprojektes
„Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Bereich Ludwigslust“ für eine fundierte öffentliche
Wahrnehmung dieses Gedächtnisortes in ihrer Region. Des Weiteren gibt der Leiter des Archivs der
Evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburgs Johann Peter Wurm einen Überblick über das Programm
einer im November 2010 im Schweriner Dom durchgeführten Tagung „Kirche im Sozialismus – Die Landeskirche
Mecklenburgs 1945-1989“. Schließlich referiert Andreas Wagner ausführlich Ergebnisse und Verlauf der im
Frühjahr 2011 auf Rügen durchgeführten Tagung „Waffenverweigerer in Uniform“ über die Geschichte der
Bausoldaten in Prora. Die unter breiter Beteiligung von ehemaligen Bausoldaten und Fachleuten vom Hannah-
Ahrendt-Institut für Totalitarismusforschung, der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen,
der Robert-Havemann-Gesellschaft, dem Prora-Zentrum und Politische Memoriale e.V. durchgeführte und von der
Landeszentrale für politische Bildung und der Landesbeauftragen für die Stasiunterlagen unterstützte
Veranstaltung ist ein deutliches Zeichen für das engagierte fachliche Bemühen, dem allenthalben
kolportierten Mythos vom KdF-Seebad die Realgeschichte, die jahrzehntelang durch Kasernierte Volkspolizei
und NVA/Bausoldaten geprägt war, entgegenzustellen. Die Wirkmächtigkeit jenes Mythos dokumentierten die
vielen Berichte anlässlich der Eröffnung der „längsten Jugendherberge“ im Block V zum Ferienbeginn 2011
eindrücklich – ein Argument mehr, die NS-Geschichte nicht aus der Zeitgeschichte zu entlassen.
Den Abschluss dieses Heftes bilden die diesmal etwas ausführlicheren, weil uns (nicht nur regional) nahen,
Berichte „Aus anderen Ländern“ und eine gute Anzahl von Rezensionen sowie die Übersicht über
Neuerscheinungen in unserem Land.
Ihre Redaktion