Zeitgeschichte regional | 14. Jg., 2010, Heft 2

8,00 

Beschreibung

Wie im letzten Heft angekündigt, galt in diesem Jahr der Rezeption von Geschichte(n) und deren Geschichte die besondere Aufmerksamkeit von „Zeitgeschichte regional“. Das Jahr 2010 hielt dafür eine Reihe von Anlässen bereit. Die Sehnsucht nach dem guten König zieht sich durch die Geschichte, nicht nur der Deutschen. Zuweilen wird aus dem König auch ein Kaiser oder Führer. Was für den deutschen Nationalmythos der Kyffhäuser ist, ist für Mecklenburg-Vorpommern Hohenzieritz. Die dort aufgestellte Plastik der Luise von Mecklenburg-Strelitz, verehelichter Königin von Preußen, stand im Sommer 2010 im Zentrum aufwändiger Inszenierungen um die 200 Jahre zuvor jung verstorbene Mutter des späteren ersten Wilhelms des zweiten deutschen Kaiserreiches. Luise Schorn-Schütte spürt den Anfängen und Entwicklungen der Erinnerungsinszenierungen um die „Königin der Herzen“ nach. Als am 7. November Fritz Reuters 200. Geburtstages in seiner Heimat feierlich gedacht wurde, lag bereits ein arbeits- und ereignisreiches „Reuter 200“-Jahr hinter Cornelia Nenz, der Leiterin des Fritz-Reuter-Literaturmuseums in Stavenhagen. Pünktlich zum Jahrestag lag ihr Beitrag für „Zeitgeschichte regional“ vor, der sich mit der posthumen Nutzung Reuterscher Werke für Bühne und Film in den 100 Jahren nach seinem Tod im deutsch sprachigen Raum auseinandersetzt.

So wie historisches Geschehen bleibt auch dessen Rezeption an Raum, Zeit und den „Zeitgeist“ in Goetheschem Sinn gebunden. Erinnerungen haben Konjunktur, je nachdem, nach welcher Herren Geist die Zeiten bespiegelt werden sollen. Der Aufruf der Körber-Stiftung Hamburg für den Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten 2008/09 zum Thema „Helden“ war unter diesem Gesichtspunkt anregend und verdienstvoll zugleich, förderte er doch eine Reihe von Geschichten zutage, die vormalige „Helden“ kritisch beleuchteten. Die Arbeit von Carolin Mahlburg und Christin Fritzsche über den Heldenkult um den Ribnitzer Ulrich Steinhauer, der als DDR-Grenzsoldat in Berlin erschossen wurde, erhielt als beste Arbeit aus Mecklenburg- Vorpommern einen 3. Bundespreis.

Im Jahr 2010 wurde einmal mehr deutlich, dass sich für die Wahrnehmung des Untergangs des nationalsozialistischen „Reiches“ am Ende des Zweiten Weltkrieges nach dem Bruch von 1990 eine weitere Verschiebung des Blickwinkels abzeichnet. Das Kriegsende 1945 in den von der Roten Armee überrannten deutschen Gebieten mit den bislang mehr dargestellten denn tatsächlich erforschten Todesopfern unter den Deutschen gehört dazu. Nils Köhler hatte im letzten Heft von „Zeitgeschichte regional“ ein exzellentes Beispiel für eine Annäherung an dieses schwierige Kapitel gegeben. Eva-Maria Muschik und Eleonore Wolf versuchen auf der Grundlage des verfügbar gewordenen Zahlenmaterials neu zugänglich gewordener Quellen für Neustrelitz und Neubrandenburg ein differenziertes Bild über die vor allem im Mai 1945 von eigener Hand oder der naher Verwandter zu Tode Gekommenen zu zeichnen.

Für politisch induzierte, institutionalisierte Erinnerungsarbeit potenzieren sich die oben angedeuteten Spannungen. Sie muss sich – soll der auf die Würde des Menschen gerichtete demokratisch-pluralistische Anspruch nicht zur Farce werden – immer wieder mit kritischen Fragen auseinandersetzen. So schwierig es sein mag, dass das ressourcenschwächste Bundesland mit einigen die Möglichkeiten des Landes eigentlich überfordernden Hinterlassenschaften der politischen Regime des letzten Jahrhunderts wie Peenemünde oder Prora belastet ist, so dringend ist es, sich der Herausforderung zu stellen. Dabei prallen dann Betroffenheiten und Interessenlagen wie in der Diskussion zum Umgang mit der Geschichte von Prora, vor allem aber zur Einrichtung einer Bildungsstätte am Ort, aufeinander. Stefan Wolter, Waffendienstverweigerer und in der DDR-Zeit als Bausoldat hier stationiert gewesen, knüpft mit seinem Beitrag an eine frühere, in „Zeitgeschichte regional“ veröffentlichte Meinungsäußerung an. Offenbar hat sein Insistieren die Entwicklung und Umsetzung der Konzeption für die zukünftige Bildungsstätte in Prora beeinflusst. Die Texte von Jürgen Rostock für das am Ort tätige Dokumentationszentrum Prora und von Hubertus Buchstein, Vorsitzender des Kuratoriums der für die Gedenkstättenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern zuständigen Landeszentrale für politische Bildung, beziehen sich auf die Vergabeentscheidung des Kuratoriums für die Förderung jener geplanten Bildungsstätte in Prora mit Landesmitteln.

Rolf Bartusel bewahrt die Erinnerung an einen auf den ersten Blick abseitig erscheinenden Aspekt der Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns: die erste Dekade des Faltbootbaus bei der Matthias-Thesen-Werft Wismar. Hier wird gezeigt, wie sich unter Bedingungen der DDR der 1950er und
1960er Jahre Ambitionen und Leistungen zu Lokal-, Industrie-, politischer und Personengeschichte verbanden.

Günter und Ralf Ewert knüpfen mit der hier vorgelegten biographischen Skizze über Victor van der Reis an ihre biographische Spurensuche nach in der NS-Zeit emigrierten, vormals in Greifswald tätig gewesenen jüdischen Medizinern an und verfolgen auch hier den weiteren Lebensweg.

Über die Bewahrung der würdigenden Erinnerung an das Engagement und die Leistungen von (wiederum jüdischen) Ärzten im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republik 1936-1939 berichtet Hannelore Rabe. Durch das Bemühen der VVN/BdA entstand in Ueckermünde ein neuer Gedenkstein, nachdem der noch 1988 beim dortigen NVA-Lazarett errichtete zu Beginn der 1990er Jahre zerstört worden war.

Der Arbeit mit Zeitzeugen sind zwei Berichte aus der regionalen Geschichtsarbeit gewidmet. Andreas Wagner berichtet über das 8. Bützower Häftlingstreffen im September 2010. Dirk Mellies und Frank Müller stellen ein studentisches Zeitzeugenprojekt zur Friedlichen Revolution in Greifswald 1989 vor, aus dem 21 Interviews veröffentlicht werden konnten.

Der obligatorische Hinweis auf die auch diese Ausgabe vervollständigenden Rezensionen, Annotationen und Neuerscheinungsmeldungen sei abschließend ergänzt um die Anzeige eines neuen (des vierten) Sonderheftes von „Zeitgeschichte regional“. Unter dem Titel „Da kann sich so eine
Landratte nicht reindenken“ haben Angrit und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt das von 1910 bis 1939 geführte Tagebuch des Rostocker Schiffsingenieurs Fritz Ruppert mit Unterstützung durch dessen Sohn Rüdiger Ruppert bearbeitet.

Eine anregende Lektüre im neuen Jahr 2011 wünscht Ihnen

Ihre Redaktion