Zeitgeschichte regional | 10. Jg., 2006, Heft 1

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Beschreibung

Mit der neuen Ausgabe nimmt „Zeitgeschichte regional“ einmal mehr auf Jahrestage Bezug und dokumentiert dabei die Zeitlosigkeit von Diskursen und menschengemachten Konstellationen. Die dafür aufgesuchten historischen Orte sind die Hohen Schulen dieses Landes, seine Universitäten. Die Entwicklungswege beider – der Rostocker und der Greifswalder – Universitäten im heutigen Mecklenburg-Vorpommern weisen mehr als eine Gemeinsamkeit auf. Die Greifswalder Universität blickt in diesem Jahr auf eine 550jährige Geschichte zurück. Mehr unfreiwillig stand die einige Jahrzehnte ältere Universität Rostock bei der Entstehung der alma mater gryphiswaldensis Pate. Beiden Universitäten war bis ins 20. Jahrhundert gemeinsam, dass sie hinsichtlich ihrer Größe und ihrer Bedeutung die kleinsten universitären Forschungs- und Lehranstalten im Deutschen Reich waren. Das Stigma des „akademischen Sibirien“ fand offenbar für beide Hochschulen Anwendung. Juliane Deinert zitiert mit diesem Diktum in ihrem Aufsatz über die Rostocker Studentenschaft zwischen den Untergängen von Weimarer Republik und „Drittem Reich“ Helmut Heiber, der an anderer Stelle in seinem opus „Universität unterm Hakenkreuz“ auch Greifswald mit dem Etikett „akademisches Sibirien Preußens“ versah. Beide Einrichtungen erlebten mit ihrer Wiedereröffnung im Februar 1946 eine Neukonstituierung unter neuen politischen Vorzeichen, wesentlich beeinflusst durch den Zusammenbruch des Deutschen Reiches und die sowjetische Besetzung. Ob und wie weit der mit dieser Neukonstituierung begonnene – zunächst politisch inspirierte – Wandel den Charakter der Universitäten veränderte, versuchen Martin Handschuk für Rostock und Mathias Rautenberg für Greifswald zu beleuchten. Beider Aufmerksamkeit ruht auf Auseinandersetzungen, die – vordergründig um Entnazifizierung und Demokratisierung geführt – eine strukturelle Abkehr von der seit dem 19. Jahrhundert heraus gebildeten Universitätsverfassung einleiten sollten. Dass wir danach den Rahmen menschengemachter Geschichte nicht verlassen haben, zeigen die aktuellen Debatten über Entwicklungsvereinbarungen oder -vorgaben. Auch hier geht es – in veränderter Kräftekonstellation und mit neuen Beteiligungsspielräumen – um längerfristig wirkende Entscheidungen über Ressourceneinsatz und -verteilung. Interessant ist, dass sich im Ergebnis der aktuellen Debatten Spezialisierungs- und Konzentrationstendenzen von Fachbereichen abzuzeichnen scheinen, wie sie seit jener Wiedereröffnung mit vermeintlich revolutionärem Anspruch oktroiert worden waren. Das für die gesellschaftliche Perspektive entscheidende soziale Terrain an den Universitäten war bei den Studierenden zu gewinnen oder zu verlieren. René König für die Universität Rostock und Ingrid Miethe für die Universität Greifswald zeigen, dass die Entscheidungen im Sinne einer sich ausprägenden SED-Hochschulpolitik trotz der Etablierung von politischen „Brückenköpfen“ durchaus nicht ausgemacht waren. Gerade in den Studentenschaften der Universitäten traf die Radikalität der „Revolutionäre“ auf die Beharrlichkeit studentischer Resistenz, die in Teilen sicher antikommunisitsch motivierter Widerstand, in nicht geringem Umfang jedoch auch Reaktion auf Rücksichtslosigkeit und professionelles Unvermögen der neuen Administration waren. Mit seinem Beitrag über die Rückführung des Croy-Teppichs 1956 nach Greifswald beleuchtet Dirk Alvermann scheinbar nur eine Facette eines weiteren, des 500. Jahrestages der Gründung der Universität Greifswald. Neben der über das Symbolische hinausgehenden Bedeutung des Croy-Teppichs für das Selbstbewusstsein der Greifswalder Universitätsangehörigen offenbart der Text in einem kleinen Ausschnitt unerwartete, weil Klischees nicht unbedingt bedienende Eindrücke von Auseinandersetzungen um Traditionen und Rechte an nationalen Kultursymbolen unter den Bedingungen des Kalten Krieges.
Im Anschluss an das Thema widmet sich Johann Peter Wurm einem für die evangelischen Kirchen schmerzhaften, weil für die in der Folge Betroffenen vielfach verhängnisvollen Thema: Kirchenbücher im Dienst der NS-Rassenpolitik. Hier werden die Mecklenburgische Sippenkanzlei als Vorbild für die Entstehung vergleichbarer Strukturen im gesamten Deutschen Reich und ihr Protagonist, der als Auf- und Absteiger Klischees nationalsozialistischer Funktionäre bedienende Pastor Edmund Albrecht beschrieben. Eleonore Wolf skizziert einen wichtigen, in vieler Hinsicht den wichtigsten Aspekt des Alltags der Neubrandenburger Nachkriegsgesellschaft, die Sicherung der Ernährung in einer verwüsteten Region. Mit seinem Aufsatz über „vier Leben eines Dampfschleppers“, der Gegenstand eines Verfahrens zur Vermögensrückübertragung in der vereinigten Bundesrepublik wurde, führt uns Peter Danker-Carstensen fast an die Gegen wart heran. Der Dampfer begann kein fünftes Leben, sondern blieb, was er seit nahezu drei Jahrzehnten war, ein Museumsexponat, verdankt allerdings nicht zuletzt dem Amt zur Regelung offener Vermögensfragen, dass jene „Leben“ nun nachvollziehbar geworden sind.
Der versöhnliche Abschluss der Aufsatzsammlung wird konterkariert durch die auszugsweise Wiedergabe von Berichten von bzw. über Menschen, die ärztlicher und juristischer Anmaßung, scheinbar legitimiert durch ein „Erbgesundheitsgesetz“, oder eine Hitlersche Verfügung zur „Euthanasie“, zum Opfer gefallen sind.
Auch dieses Heft wird durch Berichte über Projektarbeit in Mecklenburg-Vorpommern und natürlich Literaturbesprechungen abgerundet.
Mit der Lektüre hoffen wir, Sie auf die nächsten Ausgaben neugierig gemacht oder, mehr noch, interessiert zu haben, sich mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen.
Das zweite Heft des Jahrgangs 2006 wird Architektur- und Siedlungspolitik auf dem Gebiet Mecklenburg-Vorpommerns im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt stellen. Die beiden Ausgaben des Jahres 2007 sollen sich mit Kunstpolitik und Militärpolitik in gleicher zeitlicher und räumlicher Konstellation befassen.
Damit wäre dann der zehnte Jahrgang von „Zeitgeschichte regional“ eingeläutet. Dass Sie uns als Leser, Kritiker, Autoren auf diesem Weg weiter begleiten werden, hofft

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