Zeitgeschichte regional | 06. Jg., 2002, Heft 2

6,00 

Beschreibung

Krieg und Frieden, Verhandlungen oder militärische Gewalt sind in Europa als Themen momentan so aktuell wie wohl in den letzten 60 Jahren nicht mehr. Offensichtlich sitzt aber die Erfahrung in Deutschland besonders tief und motiviert sogar eine Regierung, sich gegen den „großen Bruder“ zu stellen. Zeitgeschichtlich betrachtet, vermittelt die aktuelle Debatte vielleicht ein wenig über die widersprüchlichen Empfindungen politisch denkender Menschen z.B. während einer Appeasement-Debatte 1938. Historische Vergleiche drängen sich gerade in der Zeitgeschichte immer wieder auf. Im vorliegenden Heft ist die „Kirche“ das Thema. Die Kirche als Gebäude, die Kirche als Institution, die Kirche als Glaubensgemeinschaft oder die Kirche in ihrer gelebten Individualisierung, vermittelt über Persönlichkeiten, zeigt die verschiedenen Facetten eines so oft leichtfertig pauschalisierten Phänomens. Selten konnte „Zeitgeschichte regional“ ein Thema so ausführlich behandeln.
Der Schwerpunkt liegt zeitlich auf der Geschichte nach 1945. Aktive Anpassung und passiver Widerstand (oder umgekehrt?) in einem kirchenfeindlichen oder zumindest kirchenunfreundlichen Staat wie der DDR werden bereits durch einen sehr bildhaften Titel wie „Wagenburg im Honecker-Staat“ von Rahel Frank assoziiert. Stadiale Unterschiede werden in verschiedenen Zeitebenen sichtbar. Georg Diederich geht nimmermüde der Spur seiner katholischen Glaubensbrüder und -schwestern in der mecklenburgischen Diaspora nach. Martin Onnasch untersucht die Arbeit und die Rolle der „Jungen Gemeinde“ in der pommerschen Kirche 1952/53 in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Die Auseinandersetzung um Moderne und Konservatismus scheint bei der Frage nach pommerschen Kirchenneubauten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bei Michael Lissok auf. Nach so viel Backsteingotik im vergangenen Jahr wird dieser Beitrag zum Aha-Erlebnis.
Hermann Langer und Irmfried Garbe entdecken für die Leserinnen und Leser von „Zeitgeschichte regional“ brisante Dokumente zur Kirchenpolitik in der Zeit des Nationalsozialismus, die sich mit der Verbiegung der Glaubenslehre befassen.
Das Thema „Kirche“ zieht sich inhaltlich durch das Heft über die Lebenserinnerungen von Friedrich Winter über seine Zeit als Studentenpfarrer in Greifswald bis in die Archivmitteilungen und bis in das heutige Leben im Interview mit dem Pastor der Rostocker Innenstadtgemeinde Jens Langer.
In die Zeit der subtilen Anfänge des Nationalsozialismus in Mecklenburg führt die ausführliche biographische Skizze des jüdischen Rostocker Universitätsprofessors David Katz, zusammengestellt von Manfred Berger, die nach der Würdigung des Lebensweges seiner Frau Rosa Katz im vorletzten Heft nun die Ergänzung darstellt.
Zehn Seiten des neuen Heftes von „Zeitgeschichte regional“ nimmt die aktuelle Debatte über eine der interessantesten und widersprüchlichsten Unternehmerpersönlichkeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Ernst Heinkel, Gründer des späteren Konzerns seines Namens, hat die Hansestadt Rostock in eine öffentlich geführte Kontroverse um eine Ausstellung gestürzt, die nicht immer sachlich geführt wurde und mit polarisierender Polemik verbunden war. Was objektiv bleibt, sind offensichtliche Desiderate in der historischen Forschung, die auch noch genügend Stoff für weitere Hefte von „Zeitgeschichte regional“ bieten werden.
Ebenfalls zehn Seiten umfassen die Berichte über Ausstellungen, Konferenzen und Kolloquien. Das zeugt von einer erfreulichen Vielfalt der Aktivitäten zu zeitgeschichtlichen Themen in unserer Region aus sehr unterschiedlichen sozialen und politischen Ansätzen heraus. Es ist allerdings immer noch eine starke Konzentration auf die Zeit des Nationalsozialismus und der frühen DDR zu verzeichnen. Der Erste Weltkrieg, die Novemberrevolution oder die für die heutige Zeit so wichtigen Demokratieerfahrungen der Weimarer Republik sind anscheinend für die historische Forschung oder Erinnerungskultur nicht so sonderlich interessant. Die dazu bisher vorliegenden und überwiegend selbst schon etwas betagten Ergebnisse dürften eine Neubearbeitung durchaus vertragen. Die rühmliche Ausnahme in Form einer Längsschnittstudie ist die neue Ausstellung zum politischen Mißbrauch des Strafvollzugs in Bützow.
Selbstverständlich haben auch die Rezensionen wieder den ihnen gebührenden Platz. Hier kann man den Verursachern – den Verfasserinnen, Verfassern, Herausgeberinnen und Herausgebern – sowie den aufmerksamen Rezipienten – den Rezensentinnen und Rezensenten – nur für die Arbeit danken.

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