Beschreibung
Das öffentliche Interesse an „ZEITGESCHICHTE REGIONAL“ wächst, wie die Abonnentenzahlen für unsere „grünen Hefte“ belegen. Aufmunternde Bemerkungen von Fachleuten und interessierten Laien erreichen die Redaktion nach jeder Neuerscheinung. Besonders freuen wir uns auch über die Ermutigung, den Rezensionen weiter so in kritischer Distanz und Wertung breiten Raum zu geben. Die Veröffentlichungsflut birgt allerdings die Gefahr in sich, daß wir von einigen Publikationen erst sehr spät erfahren. An Rezensionsexemplaren sind wir also möglichst bald nach Erscheinen interessiert und versprechen auch deren Bearbeitung und Besprechung.
Die Gliederung des Heftes hat sich stabilisiert, und wir werden im großen und ganzen daran festhalten. Neue Autorinnen und Autoren sind immer herzlich willkommen, und die „alten“ bitten wir, uns die Treue zu halten. Auch das klappt ganz gut, wofür wir herzlich danken. – Erfreuliches also insgesamt. Was bleibt, ist Arbeit – viel Arbeit in der Redaktion, die wir gern machen und die besonders Angrit Weber gern macht, ist doch zweimal im Jahr ein Festtag zu erwarten – nämlich der des Erscheinens des neuen Heftes.
Nun ist es also wieder einmal soweit. Das neue Heft liegt vor uns.
Ein ewig brisantes Thema ist an die Spitze gesetzt worden: Juden in unserem Bundesland – in Mecklenburg und Vorpommern. Dazu gehen wir bereits mit der Titelseite einem subtilen Antisemitismus nach, denn der Notgeldschein aus den 1920er Jahren bietet scheinbar historisch objektiv einen mittelalterlichen Holzschnitt an. Erst bei der zweiten Überlegung stellt man fest, daß die in moderner Zeit und mit dem Wissen des 20. Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen längst ad absurdum geführte „Schändung der Hostien durch die Juden“ auf diesem Geldschein unkommentiert mit der mittelalterlichen negativen Aussage in das Jahr 1922 transportiert wird und damit auch die Abscheu über diese „Freveltat“. Zehn Jahre später bildete derartiges Denken die Basis für die erneute Verfolgung und schließlich Massenvernichtung der Anhänger und Nachkommen dieser Religion. Aufgearbeitet ist diese Geschichte von Verfolgung und Emanzipation, von Kultur und Martyrium oder von Anpassung und Widerstand auch heute noch lange nicht. Immer neue Facetten werden erschlossen, und schließlich sind es die „kleinen“ Ereignisse, die am stärksten betroffen machen. Das Bild der jungen Frau, die auf der schönen Insel Rügen als „Judendirne“ öffentlich zur Schau gestellt, von Polizisten eskortiert und von Passanten begafft, beleidigt und im schlimmsten Falle auch bespuckt wird – dieses Bild bleibt im Gedächtnis und läßt die aus heutiger Sicht immer wiederkehrende Frage „Wie konnten Menschen Derartiges anderen Menschen antun?“ nicht in Vergessenheit geraten. Auch dieses Heft gibt in einzelnen Beiträgen Teilantworten auf die Frage und muß trotzdem die große Antwort schuldig bleiben, weil die Schuld bleibt.
Julia Männchen spannt dazu einen großen historischen Bogen, Peter Genz schreibt engagiert über Einzelschicksale. Die drei Beiträge sind sachlich und emotional zugleich. Zwei kurze Berichte über den Umgang mit oder das Schicksal von Synagogen ergänzen das Hauptthema aus sehr unterschiedlichen Anlässen. Dieser Stoff wird hoffentlich noch viele Seiten von „ZEITGESCHICHTE REGIONAL“ füllen und vielleicht damit langsam zu der großen Antwort führen, die Juden und jüdische Kultur neben uns selbstverständlich machen kann.
Die Aufsätze sind wieder sehr unterschiedlichen Themen und Zeitebenen zuzuordnen. Die Emanzipation junger Frauen, fokussiert auf das studentische Leben an der Rostocker Universität in zwei gesellschaftlich völlig unterschiedlichen Situationen, läßt den Entwicklungsschub deutlich werden. Grit Stunnack hat dabei auch das gesamte studentische Umfeld stark in ihre Betrachtung mit einbezogen. Die Mobilen Friedensseminare in den letzten zehn DDR-Jahren zeigen eine Facette für die Entwicklung einer Opposition in der DDR und das politische Heranwachsen schließlich der Aktivisten des Neuen Forums im Herbst 1989. Natürlich meint der Autor Christoph Wunnicke mit Mecklenburg in diesem Fall die drei Nordbezirke der DDR. Horst Sieber widmet sich nun bereits zum wiederholten Male einem Thema, das in seiner heutigen modernen Ausprägung ständig aktueller wird. Das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Ärzten am Anfang des 20. Jahrhunderts läßt damit interessante Vergleiche zur aktuellen Politik zu.
Die zwei Dokumente sind in diesem Heft beide dem komplizierten Genre „Erlebnisbericht“ zuzuordnen und korrespondieren mit dem Thema des Schicksals der Juden. Persönliches Erleben in der Reflexion mit einem zeitlich großen Abstand beinhaltet Wertungen, Empfindungen, teilweise verarbeitete Gefahren und andererseits die Authentizität des Willens nach Bewältigung dieser furchtbaren Zeit der Zwangsarbeit in Deutschland während des Nationalsozialismus. Helga Radau, die verdiente Barther Archivarin, hat hier ihre bereits viele Jahre währende fleißige und engagierte Arbeit an diesem Thema erfolgreich fortgesetzt.
Ebenfalls unter dem Aspekt des persönlichen Erinnerns, aber unter ganz anderen Umständen ist das Nachspüren der eigenen Vergangenheit in der Stadt Stralsund von Günther Rosahl in den Nachkriegsjahren zu sehen. Die Selbstverständlichkeit und die Widersprüche des Hineinwachsens der Sowjetischen Besatzungszone in die DDR wird an diesem Beispiel lebendig.
Ebenfalls in den Zeitrahmen des Nationalsozialismus gehört die fundierte und einfühlsame biographische Skizze über den Greifswalder Professor Edmund Robert Forster, der 1933 den Freitod wählte. Jan Armbruster hat dabei die Stimmung und die Situation an der Greifswalder alma mater in dieser Zeit sehr anschaulich recherchiert.
Die Gedenkstätten mit politisch-historischem Hintergrund sind längst aus dem Schattendasein hinter den etablierten Museen herausgetreten und haben ein eigenes Selbstbewußtsein entwickelt, was nicht zuletzt durch die Gründung einer eigenen Sektion innerhalb des Internationalen Museumsrates (ICOM) vor wenigen Monaten erneut öffentlich deutlich wurde. Mit dem wachsenden Selbstbewußtsein sind aber auch die Fragen an die Gedenkstätten umfangreicher geworden. Ein immer wieder auch von Trägern und Betreibern derartiger Einrichtungen empfundenes Problem ist die Frage nach den Besucherbedürfnissen. Was nimmt ein Besucher in einer Gedenkstätte emotional auf, wie viel Emotion wünscht oder verkraftet er, wie viel sachlich historische Information ist erforderlich, wie soll das Verhältnis von erläuterndem Text und originalen dreidimensionalen Ausstellungsstücken sein, sind Führungen (persönlich oder per Kopfhörer) erforderlich, oder möchte der Besucher lieber allein sein usw.? Wie derartige Untersuchungen oder Befragungen anzustellen und auszuwerten sind, ist aus Museen hinlänglich bekannt. Das Plädoyer von Bert Pampel geht deshalb auch in die Richtung, es endlich verstärkt zu tun.
Bereits gewohnt informativ sind die Mitteilungen aus der regionalen Geschichtsarbeit, und gewohnt erstaunlich ist immer wieder die erfreuliche Zahl von Aktivitäten aus den unterschiedlichsten Initiativen heraus. Eine besondere Beachtung verdient die Mitteilung von Andreas Wagner über die Arbeit in Peenemünde. Nach fast zehn Jahren und endlosen Debatten ist es nun gelungen, endlich eine Ausstellung zu etablieren, die heutigen internationalen Ansprüchen an die Aufarbeitung eines so brisanten Themas genügt. Sogar ein Bundesstaatssekretär stolperte heftig auf diesem Weg. Damit sind die Jahre des Interims mit dem für Peenemünde so zweifelhaften Charme einer liebevoll zusammengetragenen Heimatstube zwar beendet, der Streit um die politische Verantwortung bei einem solchen Thema jedoch bleibt. Mit Spannung kann deshalb auf die Bereitstellung weiterer Gelder und die Fortsetzung der Arbeiten an der Ausstellung gewartet werden.
Von der lebendigsten Form der Geschichtsarbeit berichtet die Rubrik „Lernen an historischen Orten“. Vielleicht sind Berichte in „ZEITGESCHICHTE REGIONAL“ über gelungene Workcamps ein Mosaikstein auf dem beschwerlichen Weg, das „soziale Jahr“ für Jugendliche endlich auch auf den Bereich Kultur (und damit auch Gedenkstätten) ausdehnen zu können. Die Weichen im Bundestag sind offensichtlich gestellt, und eine rot-grüne Mehrheit mag sich bei einem solchen Antrag hoffentlich positiv entscheiden. Das könnte nicht nur der Arbeit in Workcamps, sondern besonders auch der etwas längerfristigen Projektarbeit mit Schulabgängern, die ihren Weg noch nicht so richtig gefunden haben, förderlich sein.
Wenn die Themen und Beiträge des Heftes schließlich enden mit einem Bericht über die Exkursion des Museumsverbandes Mecklenburg-Vorpommern nach Schleswig-Holstein und Jütland und dem viel zu wenig bekannten Phänomen des Dänischen in Deutschland und des Deutschen in Dänemark, so hat das bereits wieder den Charme des europäischen Denkens. Bei strahlendem Sonnenschein auf dem wunderschönen diluvialen Hügel der „Düppeler Schanze“ (in Dänemark!) stehend, hat es schon seinen eigenen Reiz, über den „Heldentod“ des Kanoniers Klinke und Nationalismus heute nachzudenken. Spannend und die aktuelle Tagespolitik mitunter relativierend ist die Betrachtung einer solchen Migration von Dänen und Deutschen in den historischen Dimensionen der Jahrhunderte von Haithabu bis zum Südschleswigschen Wählerverband (SSW) allemal.
Die Redaktion von „ZEITGESCHICHTE REGIONAL“ hat das schöne Gefühl, wieder einmal ein Heft „geschafft“ zu haben, und hofft nun auf die geneigte Leserin und den geneigten Leser und noch viel mehr auf viele Stimmen zu dem neuen Heft.
Die Redaktion