Beschreibung
Den vierten Jahrgang von „ZEITGESCHICHTE REGIONAL“ eröffnen wir mit einem sehr aktuellen Schwerpunktthema: „Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg“. Vor wenigen Wochen konnte eine Einigung über die Entschädigung der Zwangsarbeiter durch die bundesdeutsche Industrie herbeigeführt werden. Drohende Klagen vor amerikanischen Gerichten zwangen letztlich die deutsche Wirtschaft zum Einlenken. Doch nun geht es darum, daß die notwendigen Summen in den Fonds eingezahlt werden, um schnell mit der Auszahlung vor allem an die bedürftigen osteuropäischen Überlebenden beginnen zu können. Doch wächst das zur Verfügung stehende Kapital nur langsam, und nicht alle bürokratischen Hindernisse für die Entschädigung sind ausgeräumt. Angesichts dieses beschämenden Umgangs mit der Vergangenheit und dem Leid der Betroffenen fordern Günter Grass, Carola Stern und Hartmut von Hentig alle erwachsenen Deutschen auf, 20 DM auf das Konto der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Commerzbank, BLZ 50040000, Kto.-Nr. 3318441) mit der Forderung einzuzahlen, daß ihr Beitrag innerhalb der nächsten sechs Monate an die Opfer ausgezahlt wird. Das wäre ein deutliches Zeichen bürgerschaftlichen Engagements für einen verantwortungsbewußten Umgang mit den Folgen der NS-Herrschaft. In ihrem Aufruf schreiben die Autoren: „Wir hoffen, nicht nur Unternehmen, Regierungen, Verbände, sondern viele einzelne deutsche Menschen werden den überlebenden Opfern dieser bösen Politik durch eine Geste zu verstehen geben, daß ihnen dieses Unrecht bewußt ist, daß sie Kummer und Scham empfinden, daß sie etwas gutmachen wollen. Uns beunruhigt die Vorstellung, daß die letzten Zwangsarbeiter sterben, ohne daß sie dieses Zeichen erreicht.“
Die Beiträge zum Schwerpunktthema von Bernhard StrebeI, Jens-Christian Wagner und Bernd Kasten sowie Auszüge aus dem Gespräch mit zwei polnischen ehemaligen KZ-Häftlingen machen eindrucksvoll deutlich, daß wir nicht über ein fernes, die Einwohner Mecklenburg-Vorpommerns nicht betreffendes historisches Thema reden. Zwangsarbeit zwischen 1939 und 1945 hat es umfangreich auch in den Territorien Mecklenburg und Pommern gegeben. Doch leider wissen wir immer noch zu wenig über die Anzahl und die Schicksale der Menschen aus allen Teilen Europas, die in unserer Region zur Sklavenarbeit in der Industrie und Landwirtschaft, aber auch in kommunalen Betrieben gezwungen wurden. Das trifft auch für das Beispiel Peenemündes zu. In bezug auf die Schattenseiten der Raketenentwicklung in Peenemünde wird bisher zumeist auf den Einsatz der KZ-Häftlinge bei der Untertageverlagerung der Produktion in die Stollenanlagen bei Nordhausen sowie Einsatz der Raketen gegen zivile Ziele in England, Frankreich und Belgien verwiesen. Aber ohne den Einsatz der ZwangsarbeiterInnen in Peenemünde wären die wissenschaftlichen Höchstleistungen kaum oder nur wesentlich später realisierbar gewesen. Jens-Christian Wagner verweist auf deutliche Defizite in der lokalen Erinnerungskultur, gerade was die NS-Geschichte Peenemündes betrifft. Die Erforschung dieser Geschichte trägt dazu bei, einer im Osten Deutschlands verstärkt um sich greifenden Verherrlichung der NS-Zeit entgegenzuwirken. Statt Geschichtsblindheit brauchen wir konkretes Wissen, auch über das lokale Geschehen der Jahre zwischen 1933 und 1945. Hier eröffnet sich ein breites Betätigungsfeld für schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Verschiedene Beiträge aus den Rubriken „Informationen aus der regionalen Geschichtsarbeit“ und „Lernen an historischen Orten“ berühren gleichfalls dieses Thema, informieren über Schwierigkeiten und Erfolge beim Erinnern an die Opfer des NS-Terrors. Hier würden wir uns wünschen, über weit mehr lokale Initiativen, ihre Arbeitsergebnisse oder auch negativen Erfahrungen berichten zu können. Wie stark Auseinandersetzungen um die Bewertung von Gewalt und Terror in der Vergangenheit Betroffene berühren und Erinnerungen nach langen Jahren des Beiseiteschiebens hervorrufen, zeigen die lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Günter Rosahl, der 1943 wenige, aber einschneidende Wochen im Wehrmachtgefängnis Anklam zubringen mußte und zur Strafverbüßung in eine Feldstrafgefangenenabteilung an der Ostfront geschickt wurde – ein „Himmelfahrtskommando“, das er bis heute nicht vergessen kann.
In der Rubrik „Aus anderen Bundesländern“ berichtet Susanne Eckelmann, eine Kollegin aus der Berliner Geschichtswerkstatt, über ein Projekt zur Erforschung von Zwangsarbeiterlagern in Berlin. Die Berliner Projektgruppe hatte nach der Fertigstellung des Artikels verschiedene polnische ZwangsarbeiterInnen zu Gast. Das Treffen war ein großer Erfolg. Aus Niedersachsen kommt ein Beitrag von Frank Bösch, den wir für einen Überblick zur zeitgeschichtlichen Forschung in diesem Bundesland gewinnen konnten.
Den Fragen unseres Redaktionsmitgliedes Ortwin Pelc hat sich dieses Mal der renommierte Hamburger Zeithistoriker Prof Arnold Sywottek gestellt.
In der vorliegenden Ausgabe gibt es noch eine ganze Reihe von Beiträgen außerbalb des Schwerpunktthemas. Wir veröffentlichen den zweiten Teil der Arbeit Gert Mengels über die Bausoldaten und die Pommersche Kirche. Peter Danker-Carstensen gibt einen Überblick zur Geschichte des Rostocker Seehafens, und Irene Blechle informiert über eine reformpädagogische Initiative Ernst Bernheims in Greifswald. In diesem Heft stellt Johannes Kornow Dokumente zum selten behandelten Thema „Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg“ und zur Migrationsbewegung des Jahres 1945 vor. Der Rostocker Historiker Mathias Rautenberg schrieb für das Heft eine biographische Skizze über Franz Wohlgemuth, einen führenden SED-Funktionär im Bildungsbereich. Im Mittelpunkt seines Beitrages steht das Wirken Wohlgemuths in Greifswald und im Land Mecklenburg. Trotz parteipolitischen Aufstiegs kam es zum Ende der 1950er Jahre zum Zerwürfnis mit der SED, und Wohlgemuth flüchtete nach Westdeutschland. Mathias Rautenberg versucht, sich behutsam den Ursachen für diesen biographischen Bruch anzunähern.
Abgeschlossen wird das Heft, wie gewohnt, von einer Reihe Rezensionen sowie Informationen zur zeitgeschichtlichen Forschung und Bildungsarbeit.
Als Meldung aus der Redaktion bleibt nachzutragen, daß wir unseren Kreis durch die Mitarbeit von Dr. Bernd Kasten, Leiter des Stadtarchivs Schwerin, erweitern konnten. Wir hoffen, daß damit die Ausgewogenheit in der Berichterstattung über Bildungs- und Forschungsaktivitäten weiter verbessert wird. Auch nach dem Erscheinen von sieben Heften sind wir immer noch begierig auf Meinungen und Anregungen, egal ob sie uns telefonisch, über Fax, e-mail oder ganz traditionell als Briefsendung erreichen. Über Anregungen für die Gestaltung des nächsten Heftes, das den Schwerpunkt „Frauengeschichte“ haben soll, wären wir ebenfalls sehr erfreut.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihre Redaktion