Zeitgeschichte regional | Sonderheft 6, 2015

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Beschreibung

„Zeitgeschichte regional“ beobachtet und schätzt seit jeher die intensive polnische Zeitgeschichtsforschung zur Region der ehemaligen Provinz Pommern. Während die polnischen Kollegen unsere deutschsprachige Forschung in der Regel wahrnehmen, steht die deutsche Wahrnehmung der polnischen zeitgenössischen Forschung noch immer am Anfang, und das hauptsächlich wegen der Sprachbarriere. Zu den wichtigen Themen, die in den letzten Jahren von polnischer Seite forciert und kritisch vorangetrieben werden, gehört die Neubesiedlung der ehemaligen deutschen Gebiete und damit die Beschreibung eines Wandlungsprozesses von einzigartigen Ausmaßen. Inhaltlich und chronologisch stellen diese Untersuchungen ein Pendant zur bisherigen deutschsprachigen Forschung über die früheren deutschen Einwohner dar. „Zeitgeschichte regional“ möchte die moderne polnische Forschung der unmittelbaren Nachbarregion bekannter machen und den polnischsprachigen Autoren ein deutsches Leserforum anbieten. Längst haben die Forschungen den rein ereignis- und politikgeschichtlichen Bereich überschritten und beziehen auch Kultur-, Kirchen-, Sozial-, Verkehrs- und Wirtschaftsgeschichte mit ein. Damit werden in diesen Studien Bereiche berührt, denen sich „Zeitgeschichte regional“ seit fast zwei Jahrzehnten intensiv widmet. Durch die Rezeption der polnischen Forschung soll das gegenseitige grenzüberschreitende Gespräch der Historiker und Regionalforscher verstärkt werden. Das vorliegende Sonderheft „Westpommern/Pomorze Zachodnie – Aspekte der polnischen Nachkriegsgeschichte Pommerns“ ist das Ergebnis einer ganz besonderen Kooperation, die in einem durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ermöglichten Seminar an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder ihren Anfang nahm. Im akademischen Jahr 2010/2011 ging es damals um die spezifischen Anforderungen, die es beim Übersetzen wissenschaftlicher Texte vom Polnischen ins Deutsche zu beachten gilt. Am Beispiel ausgewählter geisteswissenschaftlicher Texte, die im polnischen Diskurs Anfang des 21. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt haben, jedoch in den deutschsprachigen Ländern aufgrund ihrer fehlenden Übersetzung leider kaum rezipiert worden sind, übten die Seminarteilnehmer verschiedene Techniken des Übersetzens solcher Texte. Ziel der Lehrveranstaltung war die gemeinsame Erarbeitung druckreifer Übersetzungen.
Die Motivation für die Entscheidung, zeitgeschichtliche Beiträge über Westpommern für das Seminar auszuwählen, wurde durch die Bereitschaft der Redaktion von „Zeitgeschichte regional“ gestärkt, die Ergebnisse des Seminars zu veröffentlichen und die Texte so einem breiten Publikum bekannt zu machen. Zu danken ist insbesondere Herrn Dr. Irmfried Garbe (Greifswald/Dersekow) für sein Engagement und für die Herstellung des Kontakts zu Frau Lisaweta von Zitzewitz von der Stiftung Europäische Akademie Külz-Kulice (damals auch noch mit Sitz in Külz/Kulice). Insgesamt sechs der neun hier vorgestellten Beiträge erschienen ursprünglich auf Polnisch in den Zeszyty Kulickie/Külzer Heften, und zwar in Heft 5 mit dem Schwerpunktthema „Heimat Pommern – einst und jetzt/Rodzinne Pomorze – dawniej i dziś“. Frau von Zitzewitz stellte uns die Beiträge in elektronischer Form zur Verfügung und begleitete unser Projekt von Anfang an mit großem Wohlwollen. Gedankt sei den Studierenden, die durch ihre Übersetzungsarbeit zum Gelingen des Vorhabens beigetragen haben, und natürlich allen Autorinnen und Autoren für ihre Geduld und Kooperationsbereitschaft während der Übersetzungs- und Redaktionsphase. Dass jetzt ein ganzes Sonderheft vorgelegt werden kann, ist der Dynamik des Projektes und dem Wunsch geschuldet, dem deutschsprachigen Publikum einen möglichst breiten thematischen Zugang zur polnischen Historiographie über Westpommern zu ermöglichen.
Im Mittelpunkt der hier präsentierten Arbeiten steht der Prozess der Neubesiedlung Pommerns in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es geht um demographische, wirtschaftliche, politische und psychologische Faktoren des fast kompletten Bevölkerungsaustauschs in dem 1945 vom polnischen Staat übernommenen Teil Pommerns. Die polnischen Neusiedler kamen nicht nur aus den
zentralen Wojewodschaften Polens, sondern auch aus Wilna, Grodno und anderen ab 1945 im sowjetischen Herrschaftsgebiet liegenden Regionen. Viele kamen nicht freiwillig, so wie die
Lemken, die nach ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat von der Staatsmacht gleichmäßig über die „Wiedergewonnenen Gebiete“ verteilt wurden. Eine wenig bekannte Tatsache ist auch die, dass die pommersche Hauptstadt Stettin in der Nachkriegszeit neben Breslau die größte jüdische Ansiedlung in Polen darstellte. 1946 lebten über 30.000 Juden in der Stadt – über 40% der neuen Einwohner. Sehr lesenswert sind auch die kirchengeschichtlichen Beiträge dieses Sonderheftes, aus denen wir nicht nur viel über die immense Bedeutung der katholischen Kirche für den Prozess der Integration der Siedler erfahren, sondern auch über die schwierige Lage sowohl polnisch- als auch deutschsprachiger protestantischer Gemeinden in Pommern. Ein Beitrag des Heftes beschäftigt sich mit den Kaschuben und ihren Wechselbeziehungen mit der Vergangenheit und Gegenwart Pommerns. In die jüngere Zeit führt uns ein Aufsatz über die Grenzstreitigkeiten der 1980er Jahre in der Pommerschen Bucht, die aber letztlich ihren Ursprung auch in der Zäsur des Jahres 1945 und den damals getroffenen Festlegungen hatten.
Wenn wir heute – 70 Jahre später – an Kriegsende und Neubeginn in beiden Teilen Pommerns erinnern, wird uns bewusst, dass die Generation der Zeitzeugen zahlenmäßig immer weiter schrumpft. Umso wichtiger ist es, die Ergebnisse sowohl der deutschen als auch der polnischen Zeitgeschichtsforschung zu rezipieren, denn zu einer kritischen Gesamtschau der Zeitgeschichte im heutigen deutsch-polnischen Grenzraum gehören beide Sichten und Ereignisketten.
Für finanzielle Hilfen zur Drucklegung dieses Heftes danken wir der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und dem evangelischen Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern, Dr. Hans-Jürgen Abromeit.

Gero Lietz