Beschreibung
Mit diesem fünften Sonderheft von „Zeitgeschichte regional“ schließen sich mehrere Kreise. Anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar 2009 wurde das dritte Sonderheft unserer Zeitschrift in den Räumen der Jüdischen Gemeinde Rostock vorgestellt. Es ist die Edition einer in Yad Vashem gefundenen Liste der im Februar 1940 in das sogenannte Generalgouvernement in Polen deportierten pommerschen Juden. Diese Liste markiert den Beginn der Massendeportationen aus Deutschland, einen Schritt auf dem Weg zum Genozid. Im Ergebnis dieser gemeinsamen Veranstaltung verabredeten die Jüdische Gemeinde Rostock und die Geschichtswerkstatt Rostock e.V., sich zu einem gemeinsamen Publikationsprojekt über Kriegserinnerungen der aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gekommenen Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern wiederzutreffen. Nun, drei Jahre später, können anlässlich des Tages der Befreiung vom Faschismus die Berichte von 18 Frauen und Männern, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg in der UdSSR erlebt und durchlitten haben, in russischer und deutscher Sprache dem öffentlichen Gedächtnis hinzugefügt werden. Die Erinnerungen wurden durch Arkady Tsfasman, Zeitzeuge und Historiker in einer Person, zugleich Mitglied der Jüdischen Gemeinde Rostock, wachgerufen, aufgezeichnet und eingeleitet. Die Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche verdanken wir Ilona Jerjomin, Ljuba Jur und Wiatcheslaw Obodzinskij. Die redaktionelle Arbeit an den zweisprachigen Texten übernahmen Ilona Jerjomin, Juri Rosov und unsere langjährige Redakteurin Angrit Lorenzen-Schmidt gemeinsam. Ausschließlich aus der Perspektive von Kindern wird geschildert, was dieser deutsche Krieg im Osten mit den Menschen angerichtet hat: Es sind keine Heldenepen, sondern Tragödien – Einzelschicksale, die zurückhaltend und oft in knappe Worte gefasst geschildert werden. Dennoch wird erahnbar, wie viele Flüchtlingstrecks zusammengeschossen, wie viele Millionen entwurzelter Menschen durch Osteuropa geirrt, wie viele Schiffe und Orte untergegangen waren, bevor dieser Untergang den von deutsch sprechenden Menschen besiedelten Boden erreichte. Die Millionen deutscher Teilnehmer und Zeugen dieser Verbrechen wussten vielleicht, warum diese Geschichten in deutschen Diskursen über den Krieg jahrzehntelang kaum eine Rolle gespielt hatten. Die Berichte sind in drei Gruppen vergleichbarer Erfahrungszusammenhänge gegliedert: Überleben unter der Besatzung, unter der Blockade in Leningrad, im Hinterland. Die Stärke der Berichte liegt nicht zuletzt darin, dass sie Ausdruck von Lebenswillen und -kraft sind; sie haben Rachegesänge nicht nötig und vergessen auch den Dank an die vielen – auch deutschen – Überlebenshelfer nicht. Vielleicht kann diese Haltung, die die deutschen faschistischen Verbrechen an ihrem historischen Platz lässt, Beispiel für diejenigen sein, die Ilja Ehrenburg zum Vorwand nehmen, sich in einem historischen Schlachthaus zu einer moralischen Siegerpose aufschwingen zu wollen, wo es nichts zu gewinnen gibt außer Demut und Achtung vor dem Leben von Menschen in unserer Zeit. Die Erzähler, die uns in den hier abgedruckten Berichten vor Augen treten, zeugen von einer Reife, die beschämt. Die jeweils an die Kriegserinnerungen anschließenden kurzen Berichte über das neue Leben in Rostock und Schwerin schließen auch hier den Kreis: Sie sind ein Symbol für die Wiederkehr jüdischer Kultur in einem Land, welches diese 70 Jahre zuvor der Ausrottung geweiht hatte.